LAG Nürnberg: Zugang einer als „Einwurfeinschreiben“ versandten Kündigung
Das Landesarbeitsgericht (LAG) Nürnberg entschied im vorliegenden Fall (Urt. V. 15.06.2023, Az. 5 Sa 1/23) in zweiter Instanz über die Berufung gegen das Urteil des Arbeitsgerichts (ArbG) Nürnberg (Urt. V. 23.11.2022 – 4 Ca 4439/21). Dabei bestätigte es die Rechtsprechung, dass bei Übersendung einer Kündigung per Einwurfeinschreiben und gleichzeitiger Vorlage des Einlieferungsbelegs unter Reproduktion des ordnungsgemäß unterzeichneten Auslieferungsbelegs ein Nachweis des ersten Anscheins für den Zugang der Kündigung beim Empfänger spricht.
Zum Arbeitsverhältnis der Parteien und zum Verfahren
Die Klägerin war seit dem 01.04.2021 bei der Beklagten als Zahnärztin beschäftigt. Es war eine vierteljährliche Kündigungsfrist vereinbart.
Die Beklagte kündigte mit Schreiben vom 28.09.2021 per Einwurfeinschreiben das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis zum 31.12.2021. Nach dem Zustellungsnachweis wurde das Kündigungsschreiben der Klägerin am 30.09.2021 zugestellt. Mit der Klage vor dem ArbG hat die Klägerin die Feststellung begehrt, dass das Arbeitsverhältnis nicht zum 31.12.2021 aufgelöst wurde, sondern erst zum 31.03.2022. Nach ihrem Vortrag war die Kündigung also erst am 01.10.2021 zugegangen, sodass sich die Kündigungsfrist um ein Vierteljahr verlängern würde. Das ArbG hat die Klage abgewiesen. Die Klägerin legte Berufung vor dem LAG Nürnberg ein. Auch diese wurde zurückgewiesen.
Zum Beweis des ersten Anscheins
Der Beweis des ersten Anscheins (auch „Anscheinsbeweis“) wird dann angenommen, wenn im Einzelfall ein typischer Geschehensablauf vorliegt, der nach der Lebenserfahrung mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auf eine bestimmte Ursache oder Folge hinweist. Um den Beweis des ersten Anscheins zu erschüttern, muss der Gegner – hier der Arbeitnehmer – Tatsachen beweisen, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines abweichenden Ablaufs ergibt. Die Folge eines Anscheinsbeweises ist also im Kern eine Verschiebung der Beweislast zulasten des Gegners.
Die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung ist der Auffassung, dass bei Übersendung eines Schriftstücks per Einwurfeinschreiben und gleichzeitiger Vorlage des Einlieferungsbelegs unter Reproduktion des ordnungsgemäß unterzeichneten Auslieferungsbelegs ein Anscheinsbeweis gegeben ist. Dieser spricht für den Zugang des Schriftstückes bei dem Empfänger an dem in dem Auslieferungsbeleg angegebenen Tag.
Entscheidung des LAG
Nach der Entscheidung des LAG sei das Kündigungsschreiben am 30.09.2021 zugegangen. Die Klägerin hätte durch die Zustellung am 30.09.2021 unter normalen Umständen noch am selben Tag hiervon Kenntnis nehmen können. Es bestünden keine Anhaltspunkte, dass das Schreiben zu einer Tageszeit in den Briefkasten eingeworfen wurde, zu der unter gewöhnlichen Umständen nicht mehr mit einer Entnahme am selben Tag gerechnet werden könne. Damit sei von einem Zugang der Kündigung am 30.09.2021 auszugehen. Demnach sei das Arbeitsverhältnis auch zum 31.12.2021 beendet worden.
Insoweit entschied das LAG, dass der Anscheinsbeweis hier nicht bloß den Tag der Zustellung umfasst, sondern auch den Zugang des Schreibens zu den üblichen Postzustellzeiten. Dies wiederrum hat zur Folge, dass der Anscheinsbeweis auch die Vermutung umfasst, dass der Empfänger noch am Tag des Einwurfes das Schreiben aus dem Briefkasten entnimmt, nicht erst am darauffolgenden Tag.
In der Praxis
Diese Feststellung ist insbesondere relevant, wenn die Kündigung – wie hier – am letzten Tag eines Kündigungsfristzeitraumes zugestellt wurde und der Arbeitnehmer einwendet, das Schreiben sei ihm erst am Folgetag zugegangen. Dieser Anscheinsbeweis kann jedoch von dem Arbeitnehmer erschüttert werden. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass er vorträgt (und beweist) dass es in seinem Postbezirk zu Unregelmäßigkeiten bei der Zustellung kommt.
Für die Praxis bleibt es daher weiterhin bei der Empfehlung, eine postalische Kündigung möglichst früh zu versenden. Es sollte mindestens eine Postlaufzeit von 3 Tagen einkalkuliert werden.
Im Übrigen bleibt es jedoch dabei, dass die Zustellung per Einwurfeinschreiben für Arbeitgeber eine sichere Form der Zustellung darstellt. In jedem Fall sollte jedoch der Einlieferungsbeleg aufgehoben werden und eine Reproduktion des Auslieferungsbelegts eingeholt werden.
Das Team von KESSLER steht Ihnen mit langjähriger Erfahrung im Bereich des Kündigungsrechts sowie allen anderen Bereichen des Arbeitsrechts gerne zur Seite.