Von Jan-Philipp Lautebach und Michael Keßler am 16. September 2025

Überstunden und Arbeitszeiterfassung: LAG Niedersachsen verschärft Anforderungen an Arbeitgeber

Mit Urteil vom 09.12.2024 hat das Landesarbeitsgericht Niedersachsen (Az. 4 SLa 52/24) in einem Fall zur Vergütung von Überstunden eine klare Entscheidung zugunsten des Arbeitnehmers getroffen – und damit die Risiken für Arbeitgeber im Zusammenhang mit fehlender oder unzureichender Arbeitszeiterfassung erneut klar benannt.

Im Ergebnis musste der beklagte Arbeitgeber eine Nachzahlung von über 46.000 € leisten. Die Klägerin konnte ihre geleisteten Überstunden plausibel darlegen, der Arbeitgeber hingegen hatte weder ein Zeiterfassungssystem noch eine tragfähige Gegenargumentation vorzuweisen.

Hintergrund

Die Klägerin war bei er Beklagten als Lageristin tätig. Sie machte Überstundenvergütung geltend und stützte sich dabei unter anderem auf von ihr selbst erstellte Kalendereinträge. Die Beklagte bestritt die Forderung, konnte jedoch ihrerseits keine Beweise vorlegen.

Grundsätzlich trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast, wenn er Überstundenvergütung verlangt. Er muss im Einzelnen darlegen, an welchen Tagen er über die vertraglich geschuldete Arbeitszeit hinaus gearbeitet hat, wie lange er tätig war und welche konkreten Tätigkeiten er in diesem Zeitraum ausgeführt hat. Zudem muss er nachweisen, dass die Überstunden entweder angeordnet, geduldet oder zumindest stillschweigend gebilligt wurden. Erst wenn dieser Vortrag erfolgt, trifft den Arbeitgeber eine sogenannte sekundäre Darlegungslast – d. h., er muss dann im Rahmen des Zumutbaren konkret erklären, warum die Überstunden nicht geleistet worden sein sollen.

Entscheidung des Gerichts

Hier sah das Gericht die Voraussetzungen des Vergütungsanspruchs als erfüllt an.

Die Arbeitnehmerin hatte konkret vorgetragen, von wann bis wann sie jeweils gearbeitet hatte. Diese Überstunden konnten zudem aufgrund der von der Arbeitnehmerin selbst erstellten Kalendereinträge konkret und nachvollziehbar dargelegt werden. Es sei auch davon auszugehen, dass der Arbeitgeber die Überstunden zumindest geduldet habe. 

Der Arbeitgeber hingegen konnte seiner sekundären Darlegungslast nicht nachkommen. Ihm wurde zum Verhängnis, dass ein ordnungsgemäßes Zeiterfassungssystem fehlte. Das Gericht formulierte dies wie folgt:

„Einen Grund, warum es der Arbeitgeberin im Hinblick auf eine ohnehin bestehende Verpflichtung zur Arbeitsaufzeichnung nicht zumutbar sein soll, ihre hieraus gewonnenen Erkenntnisse dem Arbeitnehmer im Überstundenprozess auf dessen Vortrag entgegenzuhalten, gibt es nicht.“

Dies bedeutet: Wenn der Arbeitgeber seiner Pflicht zur Zeiterfassung nicht nachkommt, geht dies zu seinen Lasten.

Wichtige Konsequenzen für Arbeitgeber

Das Urteil reiht sich ein in eine zunehmende arbeitsgerichtliche Tendenz: Arbeitgeber werden verstärkt in die Verantwortung genommen, strukturelle Vorkehrungen zu treffen, um ihre Position im Streitfall abzusichern. Die wesentlichen Handlungspflichten lassen sich wie folgt zusammenfassen:

1. Pflicht zur Arbeitszeiterfassung konsequent umsetzen: Bereits mit der Entscheidung des BAG vom 13.09.2022 (1 ABR 22/21) wurde klargestellt, dass Arbeitgeber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet sind, ein objektives Zeiterfassungssystem einzuführen. Das LAG Niedersachsen knüpft hieran an: Wer über kein nachvollziehbares System verfügt, kann sich im Streitfall nicht darauf berufen, Überstunden einfach pauschal zu bestreiten.

2. Überstundenregelung klar strukturieren: Der Fall zeigt, dass selbst dann eine Vergütungspflicht entstehen kann, wenn Überstunden nicht ausdrücklich angeordnet, sondern nur geduldet wurden. Eine langjährige Duldung ohne Widerspruch kann als konkludente Billigung gewertet werden. Hier sind Arbeitgeber gehalten, „aufgedrängten“ Überstunden ausdrücklich zu widersprechen.

3. Reaktionsfähigkeit im Streitfall sicherstellen: Überstundenforderungen sollten im Ernstfall nicht pauschal bestritten, sondern konkret geprüft werden. Wer substantiiert und belegbar darlegen kann, wann und warum Überstunden nicht angefallen sind, verschafft sich eine deutlich bessere Ausgangsposition.

Fazit

Arbeitgeber, die beim Thema Arbeitszeit auf informelle oder ungeklärte Regelungen setzen, gehen ein Haftungsrisiko ein. Das gilt umso mehr, da sowohl die deutsche als auch die europäische Rechtsprechung immer stärker darauf hinauslaufen, die Arbeitszeiterfassung als „echte“ Pflicht des Arbeitgebers anzusehen, deren Nichteinhaltung Konsequenzen haben kann. Das Urteil ist jedoch noch nicht rechtskräftig und liegt derzeit dem Bundesarbeitsgericht zur Entscheidung vor. Es wird sich zeigen, ob das BAG der Argumentation des LAG folgt.

Das Team von KESSLER berät Sie mit langjähriger Erfahrung gerne bei der Einführung einer Arbeitszeiterfassung sowie allen anderen Bereichen des Arbeitsrechts.